Samstag, 14. April 2012

Eine Stunde Und Sechsunddreißig Minuten



Er kommt herein, sieht sich im Flur um. Zieht seine schwere Lederjacke aus und betritt die Küche. Einfach so, als wäre er hier zuhause. Ich bitte ihn, die Schuhe auzuziehen. Draußen regnet es und die Wege sind matschig. Meine Mutter weiß nicht, dass er hier ist. Er hat Hausverbot, schon immer. Und wenn sie wieder von der Arbeit kommt, soll da nichts anders als sonst sein. Ich muss aufpassen.
Wir setzen uns in die Küche. Ich wollte ihn erst in das Wohnzimmer bitten, aber die Atmosphäre dort ist mir zu privat. Das wäre wie im falschen Film. Deshalb Küche. Er hängt seine Jacke über die Stuhllehne und packt eine XXL Packung Pall Mall aus. Die rauche ich auch immer. Ich überlege, ob ich ihm das sage, um ein Gespräch anzufangen, aber dann kommt mir die Idee bekloppt vor. Es muss doch noch andere Gemeinsamkeiten zwischen uns geben als Kippen. Anstatt tatenlos und ein wenig verloren im Raum zu stehen, gehe ich in mein Zimmer und hole einen Stapel guter CDs. Iron Maiden, Rammstein, Slipknot, Marilyn Manson, System Of A Down und sehr viel Metallica.
Als die Küche erneut betrete, hat er den Raum schon vollkommen für sich eingenommen und eine Sekunde lang bleibe ich perplex stehen, verwundert über so viel Anpassungsfähigkeit. Auf dem alten Holztisch ist sein abgenutzter Reiserucksack mit den vielen Patches, Reißverschlüssen und Nieten und dessen Inhat ausgebreitet. Viel Technik, vor allem seine große Filmkamera und tausendundeinemillion Kabel. Auf dem Boden stehen mehrere Plastiktüten und ein paar Flaschen Bier und Wein. Auf der Küchenplatte ruht für höchstens fünf Sekunden sein Handy, das allerneuste, was sie im Moment auf dem Markt haben, es ist bei ihm immer in Benutzung. Tag und Nacht. Außerdem einige Bücher, höchstwahrscheinlich ziemlich anspruchsvolle Thriller und Abenteuerromane. Wenn er Zeit hat, liest er viel. Und er hat dauernd Zeit, da er völlig unabhängig von allen anderen lebt. Ich glaube, er hat das Leben, das sich so viele wünschen. Ich sage nicht, dass sie es, wenn sie es hätten, immer noch so wundervoll finden würden.
Ich frage ihn, welche CD ich in die Anlage legen soll. Er will Rammstein. Ich lege Rammstein ein.
Er beginnt zu erzählen. Seine Lieblingsbeschäftigung. Er erzählt und alle Zuhörer werden mitgerissen, egal wie viele es sind, es können auch über 50 sein.
Er ist das ganze Stück bis hier hin getrampt. Von Spanien bis zur Ostsee und von der Ostsee bis hier. Natürlich könnte er sich einfach einen Flug mit einem Privatflugzeug leisten, oder eine Fahrt mit der Limousine und Zwischenstopp in allen auf der Strecke liegenden Hiltons. Aber er braucht seine Freiheit, er muss sich beweisen, wer er ist. Er will kein Spießer sein. Er ist einzigartig. Und schon wieder bewundere ich ihn und gleichzeitig widert mich sein Narzissmus an. Ich lache, wenn er von dem Musiker spricht, der ihn auf der Autobahn mitgenommen hat, von seiner eifersüchtigen Bettbekannschaft berichtet und ihm gleich Karten für sein nächstes Konzert geschenkt hat.

Außerdem lache ich über die Geschichte von dem deutschen Mann mittleren Alters, den er an einem Supermarkt in Paris kennengelernt hat. Er hatte Lumpen an, saß mit seinem Straßenköter vor den Einkaufswagen und warf Münzen und Geldscheine auf die Straße. Der Erzählende setzte sich ohne zu zögern neben ihn, gab ihm ein paar Zigaretten und Bier und fragte ihm nach dessen Namen. Doch den wusste dieser nicht mehr, er hatte ihn vergessen. Deshalb durfte man ihn ruhig den Mann ohne Namen nennen. Der Erzählende fragte, was er den ganzen Tag so tat und warum er sein Geld auf die Straße warf. Der Mann ohne Namen antwortete, dass seine Frau ihn eines Tages raus geschmissen hatte, weil sie genug von ihm und seiner Kohle hatte. Sie meinte, er existiere gar nicht mehr, alles was ihn ausmache, sei sein Geld. Er war mal Chef einer Firma. Nun hatte er gekündigt und war mit dem Schotter, welchen seine Frau nicht mehr sehen wollte, abgehauen, in eine völlig neue Stadt. Mit dem Geld warf er sein altes Leben auf die Straße und wenn er alles weggeworfen hatte, wollte er ein neues Leben beginnen. Er bot dem Erzählenden als Dank für sein Zuhören mit gleichgültiger Miene einen Hunderter an, doch der Erzählende lehnte ab und sie verabschiedeten sich wie gute Freunde.

Er holt die Fotokamera heraus und zeigt mir Bilder, die er auf dem Weg hier her gemacht hat. Der Mann ohne Namen ist auch zu sehen. Die Bilder sind ausgezeichnet. Kein Wunder, dass sich alle Galerien nur so um ihn reißen. Letztens hat er einfach so seine Lieblingsgalerie aufgekauft, da sie pleite war. Er will sie ganz neu aufbauen. Gleichzeitig will er auch ein Konzert mit seiner Band in Berlin geben, arbeitet alle drei Tage aus Spaß als Koch in einem Restaurant, ist Chef einer ganz neu gegründeten Firma, die Kontakte für Prothesenfirmen auf der ganzen Welt herstellt, reist zwischendurch immer mal nach Afghanistan, um für die Nachrichtensender zu filmen, betreibt einen Zeltplatz an der Ostsee und bereist auf der Suche nach neuen unglaublichen Erlebnissen die Welt. Und das ist auch nur ein kleiner Teil von dem, was er zur Zeit am Laufen hat und von dem, was er noch vor hat.
Seine Spontanität, Lebensfreude und Ausstrahlung erschlagen mich immer wieder. Ich sitze einfach nur da und höre zu. Selbst rede ich nicht viel. Ab und zu lache ich oder kommentiere knapp, aber dabei bleibt es auch. Er stellt mir keine Fragen. Mein Leben interessiert ihn nicht. Wozu auch? Er hat sein eigenes und das ist um einiges spannender als jedes andere. Früher war das so schwer für mich, diese Philosophie zu verstehen, seine Philosophie, mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, dass er sich einen Scheißdreck für mich und alle anderen interessiert. Für ihn bin ich wie alle anderen. Eine weitere Person, eine weitere Bewunderin, eine weitere Anbeterin. Und davon gibt es tausende.
Sein Handy klingelt. Ich bin irgendwo zwischen einer explosionsartigen guten Laune, Heulen und Kotzen. So geht es allen mit ihm. Erzählen jedenfalls seine ganzen Freunde, so nennen sie sich. Er selbst nennt sich Einzelgänger.
Er muss los. Irgendwo wird er jetzt sofort gebraucht. In geübter Hochgeschwindigkeit packt er seine unzähligen Sachen, die alle ihre eigenen Geschichten erzählen könnten, zusammen und zieht sich wieder Jacke und Schuhe an. Er trägt grundsätzlich Klamotten aus einer anderen Zeit, einer vergangenen. Wenn man ihn so ansieht, ahnt man eigentlich gar nicht, wie viel Geld er hat. Seine Kleidung deutet mehr auf seine Abenteurerseele als auf seinen sozialen Stand.
Plötzlich steht er in der Haustür und verabschiedet sich. Da fällt ihm ein, ich hatte doch letztens Geburtstag. Oder? Ja. Er kramt in einer der Seitentaschen und zieht etwas Goldenes heraus und gibt es mir ohne mich anzusehen. Dann sagt er "Auf Wiedersehen" und läuft die Treppe zur Haustür herunter. Ich schließe die Tür. Ich atme tief durch. Ich gehe zum Fenster. Da läuft er und er schaut nicht zurück. Natürlich nicht. Da läuft er mit all seinen Sachen, Geschichten und wird gleich wieder seine nächsten ungewöhnlichen Erfahrungen machen, das ist bei ihm Naturgesetz. Er wird mich in den nächsten Stunden schon wieder vergessen haben, ich bin weniger als nur seine Tochter.
Bevor mir die Tränen kommen, sehe ich auf den Gegenstand, den er mir gegeben hat. Eine alte, goldene, wunderschöne Taschenuhr. Sie funktioniert sogar noch. Aber ich müsste sie richtig einstellen, sie tickt in ihrem eigenen Takt.

5 Kommentare:

  1. Dankeschön! hahah sowas hört man immer wieder gerne :D
    Du schreibst aber auch echt gut♥ Ich hab mich gleich mal
    als Leserin angeschlossen.
    Liebe grüße♥

    AntwortenLöschen
  2. Du schreibst wunderschön ♥ Danke auch, dass du Leser meines Blogs bist ♥

    AntwortenLöschen
  3. dein blog gefällt mir. ich würde mich freuen wieder was von dir zu lesen.

    AntwortenLöschen
  4. Jaaah bin bei fanfiktion.de
    ne geniale seite im übrigen :D
    Nur leider komme ich dort momentan zu nichts.
    Also die jetztige Geschichte dort pausiert,
    weil ich da iwie nicht weiter komme und auch selten zeit dafür hab.
    Schreibblockade :(
    Dafür schreibe ich gereade viel an anderen sachen, die ich vllt
    auch mal on stellen werde.
    Danke für dein kommentar ;)
    http://www.fanfiktion.de/u/The+Crazy+One

    AntwortenLöschen
  5. wow. guter schreibstil.
    solche männer sind immer faszinierend. ich habe einmal eine nacht mit einem verbracht - in seinem bett, aber wir hatten keinen sex, wir haben uns eigentlich nicht mal geküsst, obwohl ich wollte, aber ich traute mir gar nicht, er schien einfach eine ganz andere kategorie zu sein. schon die tatsache dass dich jemand in sein bett einlädt, weil "er es doch immer so mit allen besuchern macht" ist irgendwie anziehend. oh jaaa...
    und er hat mich total fasziniert, er hat so viel gereist, in england gelebt, in südamerika drogen genommen und war unglaublich intelligent und klug...und unglaublich sexy. na ja...eine andere kategorie halt. dabei genauso alt wie ich, mein ehemaliger grundschulmitschüler =)

    AntwortenLöschen